Wie man von Hundertstel ins Tausendstel kommt

oder einem Buch entfällt ein Lesezeichen

Felix der Kater war die populärste Cartoonfigur der Stummfimzeit, im Tonfilm war er Micky Maus keine Konkurrenz. Wer ihn erfunden hat, lässt sich nicht mehr genau sagen. War es der Filmproduzent Pat Sullivan oder sein Chefzeichner Otto Messmer?

Lesezeichen, vermutlich zwischen 1953 und 1955

Sullivan, ein schwerer Alkoholiker, behauptet in jedem Interview was anderes. Sicher ist Felix’ erster Auftritt im Kurzfilm „Feline Follies“ am 9. November 1919. (Felix‘ Auftreten und Sullivans Abgang 1933 markieren genau Anfang und Ende der Prohibition — für die Buchausgabe 1927 schrieb Alfred Polgar das Vorwort)

Ein Revival erlebte Felix the Cat 1953 im Fernsehen. Mein Lesezeichen wird vermutlich aus dieser Zeit stammen, die Typografie deutet darauf hin und die Adresse der Wiener Städtischen.

Die Wiener Städtische ist eine sehr alte Versicherung, deren Wurzeln auf 1824 zurückgehen und die durch verschiedene Fusionen nach dem Krieg so hieß, wie auf der Rückseite angegeben.

Rückseite des Lesezeichens

1914 bezog die Versicherung den Neubau des „Schönbrunnerhaus“ in der Tuchlauben (neben dem CAFE KORB). Der Name geht auf den reichverzierten Brunnen vor dem Haus zurück, der 1753 (!) dem Verkehr weichen musste. Seit 1928 steht an seiner Stelle der „Tuchmacherbrunnen“, der dort im Rahmen der Wiener Festwochen installiert wurde.

Tuchmacherbrunnen (1928)

Im alten Schönbrunnerhaus wurde 1885 Alban Berg geboren.

Altes Schönbrunnerhaus

Eine interessante Persönlichkeit ist auch der Generaldirektor Norbert Liebermann.

1881 in Drohobytsch, Kronland Galizien, geboren (von dort stammt auch der ukrainische Nationaldichter Iwan Franko, nach dem das ehemalige Stanislau benannt ist, ebenso Bruno Schulz: „Die Zimtläden“ und die Schauspielerin Elisabeth Bergner).

Dieser Robert Liebermann kam 1898 als Waise nach Wien, machte Karriere bei der „Atlas“-Lebensversicherung, ehe ihn Hugo Breitner, der Finanzstadtrat des Roten Wien 1922 zur Städtischen holte, wo er die Aktivitäten ausweitete und wo man ihn 1934 zwangspensionierte.

1938 wurde er nach Dachau deportiert, wo ihm 1939 die Ausreise in die Staaten gelang. Nach dem Krieg holte ihn Theodor Körner zurück und er war dann von 1947 bis zu seinem Tod 1959 wieder Generaldirektor der Wiener Städtischen.

Norbert Liebermann (1881-1959),
Generaldirektor 1922-1934, 1947-1959

Als solcher veranlasste er die Übersiedlung von der Tuchlauben 8 in Wiens zweites Hochhaus, den Ringturm am Schottenring, 1953-1955 errichtet, von Erich Boltenstern geplant.

Ringturm, Sitz der Wiener Städtischen Versicherung, heute: Vienna Insurence Group

Der „Liebermann-Hof“ im II., Obere Donaustraße 49-51 geht ebenfalls auf Boltensterns Konto.

Nahe dem Türkenschanzpark befindet sich im Norbert-Liebermann-Park eine Gedenktafel.

Gedenktafel, Aumannplatz

Er selbst logierte in der Cottagegasse 54, in Nachbarschaft zur Gutmann-Villa, den Kohlenbaronen.

Frank Tallis‘ Liebermann-Krimis beziehen sich, so weit mir bekannt ist, nicht auf den Versicherungsdirektor.

5. Mai 2024

Alfred Polgar

Verstorben am 24. April 1955 in Zürich

Aus meiner kleinen Büchersammlung

Geistreicher Grandseigneur der Feder

„Ein Sprachkünstler, der voller Schärfe die Welt durchschaut. Lächelnd spricht Alfred Polgar auch traurige Wahrheiten aus. Als Virtouse des Understatements formuliert er sparsam, aber souverän. Der „Meister der kleinen Form“ verfasst literarische Miniaturen, geistreiche Pamphlete und Stimmungsbilder.“

„Wurde in Wien geboren. Mein Vater war Musiker. Ich habe viel studiert und nichts gelernt. War Journalist, Parlamtsbericherstatter, Theaterkritiker. Übersiedelte 1927 nach Berlin und ging 1933 nach Wien zurück. Besondere Kennzeichen meines Lebens: keine.“

„Die Selbstbeschreibung eines Skeptikers, der Understatement als Stilmittel pflegt. Alfred Polgar ist ein Sprachkünstler, der voller Ironie und Schärfe die Welt durchschaut. Lächelnd spricht er traurige Wahrheiten aus. Er formulierte sparsam, aber souverän. Er sei der „Marquis des Feuilletons“ und „von so provokant in sich gekehrter Sanftmut, daß dieses Piano seines Wesens die Tassen erklirren machen“, sagte sein Gefährte Anton Kuh.“

Sämtliche Zitate habe ich der Serie „Dichter und Denker. 100 große Österreicherinnen und Österreicher der vergangenen 100 Jahre“ als Reverenz an den Journalisten und Fotografen Michael Horowitz entnommen, der vor vierzehn Tagen gestorben ist.
(Die Presse am Sonntag, 10. März 2019, S. 16)

Den zweiten Absatz hat er seinerseits zitiert, er ist erstmals in „Das Wort. Literarische Monatsschrift“ April/Mai 1937, S. 180 entnommen.

Hier ist das Zitat leichter zu finden.

Was mir an Alfred Polgar so ans Herz gewachsen ist, das ist seine Zuwendung auch an kleine, unauffällige Dinge des Lebens, scheinbaren Nebensächlichkeiten mit souveränem Sprachwitz, der den umfassend Gebildeten auszeichnet.

Seine sechsbändigen „Kleine Schriften“ zählen zum Wertvollsten, das meine kleine Büchersammlung aufzubieten hat.
Ich habe überdies 45 Einzelausgaben gezählt, teils mit Co-Autor Egon Friedell.

Ein paar Schmankerl seiner Reaktion auf die Besprechungen von „An den Rand geschrieben“ (Rowohlt, 1926):

„Mein Buch „An den Rand geschrieben, kleine Erzählungen und Studien“, hat sehr nachsichtige Beurteiler gefunden. Doch war der Titel nicht glücklich gewählt.“

„Die kleine Form (quasi ein Vorwort)“ erschienen in: „Orchester von oben“ (1926)

Aus der Bescheidenheit des Namens hatte man auf die Bescheidenheit des Inhalts geschlossen.

„andere wieder brachte er auf den zierlichen Einfall, daß meine Literatur, schriebe ich sie an den Rand, eben dort stünde, wo sie hingehört.“

Mit dem Schlagwort schlugen sie ihn und das Stichwort versetzten sie ihm.

„Kurz, es lebte sich kritisch, auf meine Kosten, vom Rand in den Mund“.

Verderblicher noch als der Titel sei „die kleine Form“: Lektüre für Minuten, das Stündchen vor dem Einschlafen, in der Straßenbahn, am winterlichen Kamin, in der Hängematte …

„zum Autor für Nachspeise- und Vorschlummerstündchen herabgesetzt“

Hätte er nicht aus hundert Zeilen zehn gemacht, stünde er da im „Fettnapf der Anerkennung, den ganzen Tag mit Honorare quittieren und Autogramme geben reizvoll beschäftigt, im Besitz eines Motorboots, eines goldenen Füllfederhalters und zweier schottischer Schäferhunde, denen ich die Namen der Helden meines berühmtesten Romans gäbe, …“

„Das Leben ist zu kurz für lange Literatur, zu flüchtig für verweilendes Schildern und Betrachten, zu psychopathisch für Psychologie, zu romanhaft für Romane, zu rasch verfallen der Gärung und Zersetzung …“

„kürzeste Linie von Punkt zu Punkt heißt das Gebot der fliehenden Stunde. Auch das ästhetische.
„Schöne Literatur“ mit geschwollenem Wanst, sei ein Widerspruch im Beiwort.

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Alfred P o l g a r zum 150. Geburtstag

am 17. Oktober 2023

„ … jedwede Art öffentlicher und privater Kundgebung, Aktion, Gratulation, Würdigung, Notiz, Glosse, Essay oder Gelegenheits-Geschmuse à propos meines Geburtstags als feindseligen Akt betrachte, bestimmt, mich auf‘s Tiefste zu ärgern und zu verdrießen.“

Das lächerliche Datum solle von den freundlich Gesinnten mit Stillschweigen übergangen werden.

Diesen Gefallen muss ich dem Grandseigneur der Feder, dem Meister des Feuilletons bei aller Wertschätzung verweigern.

Das Foto ist übrigens 1944/45 in Hartsdale/New York entstanden, im Haus des Zuckerlindustriellen Hans Heller, dem Onkel des Heller André. Hans und Gretl Heller führten in der Johann Strauß Gasse 30, auf der Wieden, einen Salon, in dem Polgar verkehrte.

„Im Leben geht es zu wie im Leben, nicht wie im Tonfilm“, betont das „Mausoleum der Nuancen“ (Anton Kuh) mehrfach.

Zahlreiche Wohnungswechsel der Eltern, Anzeichen einer wenig gesicherten Existenz, schlechte Schulnoten (Deutsch: Genügend), daher erste Sporen als Gerichtsreporter.

Auf Wiener Allgemeine Zeitung, Wiener Sonn- und Montagszeitung, dort immerhin bereits Burgtheater-Referent, folgte die Berliner Schau-, später Weltbühne, ein Qualitätsblatt höchster Ansprüche.

In diese Zeit fällt die Zusammenarbeit mit Egon Friedell, deren „Goethe im Examen“ jahrelang die Säle füllte. Auch eine Übersetzung wäre zu erwähnen: Molnars „Liliom“, in Budapest durchgefallen, feiert in der Polgar-Übersetzung in Wien Triumphe.

Seine Tätigkeit als Feuilletonchef des kurzlebigen „Der Neue Tag“ mit allen Kapazundern gespickt, öffnet ihm Anfang der 1920er Jahre das Tor in die große deutschsprachige Zeitungswelt: Prager Tagblatt, Berliner Tageblatt, Weltbühne.

Joseph Roths Hinweis, er sei ein Schüler Polgars, war Pose, Polgar hatte keine Schüler, Polgar war unverwechselbar, seine Ironie, Melancholie, Skepsis, seine spielerisch-virtuose Sprachbeherrschung machten ihn einzigartig. Wie Joseph Roth einzigartig war.

Seine „Theorie des Café Central“ 1926 hatte er bereits in Berlin verfasst. Eine einzige Komödie, „Die Defraudanten“, Gemeinschaftswerk mit F. Th. Csokor, wurde sogar verfilmt.

1933 betreten die Ratten das sinkende Schiff. Berthold Viertel rettet ihm das Leben, indem er ihn nach Prag einlädt. 24 Stunden später waren sämtliche Mitarbeiter der Weltbühne verhaftet, Carl von Ossietzky starb im KZ.

In Zürich erhält er keine Arbeitsbewilligung, in Paris schreibt er Werbetexte für eine Zigarettenmarke. Im März 1938 ist er zufällig in Zürich, 1940 emigriert er auf der „Nea Hellas“ mit Werfel, Heinrich Mann, Döblin … an Bord in die USA.

1949 besucht er Wien, holt sich die Entschädigungssumme ab und gibt dort die gesamte Summe aus.

„Ich muss über diese Stadt ein vernichtendes Urteil abgeben: Wien bleibt Wien.“

Der Kosmopolit des Mikroskopischen stirbt am 24. April 1955 um 6.40 Uhr im Hotel Urban in Zürich an Herzversagen.

1965 richtet die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung den „Alfred Polgar Preis für die kleine Form“ ein. Er wurde nie vergeben.

Ein besonderes Zeichen der Wertschätzung für den leisen Anarchisten, wenn niemand würdig befunden wird, einen nach Alfred Polgar benannten Preis zu erhalten.

Erika Mitterer: „Der Fürst der Welt“ (1940)

(Erika Mitterer, 30. März 1906 – 14. Oktober 2001)

Columbus, er kommt im Romanepos nicht vor, hat gerade Indien entdeckt, während in einer Bischofsstadt zwei Tagesritte von Nürnberg das kleinstädtische Leben um 1500 seinen mehr oder minder geregelten Lauf nimmt.

Erika Mitterer richtet es so geschickt ein, dass dem Leser nie recht klar wird, wer nun die Hauptpersonen der Romanhandlung sind. Bei fortgeschrittener Lektüre wird klar, dass sie mit einem pausenlosen Perspektivenwechsel arbeitet.

Die jeweiligen Gesellschaftskreise überschneiden sich, das Bürgertum ist noch ganz mittelalterlich organisiert, während die Söhne bereits im merkantilen Geist die Sache angehen, der Klerus ist neuen Ideen überraschend aufgeschlossen, der intellektuelle Arzt haust in seiner Gelehrtenkammer wie Dr. Faust. Das Frauenkloster ist eine Welt für sich.

Der Roman ist 1940 erschienen, das heißt, Auge und Geist offenhalten auf versteckte Hinweise, und man wird fündig.
Bischof Ulrich: „Gedanken sind gefährlicher als Geschütze“, Abt Tilmann meint, dass „Herrschaft, die statt auf Vernunft und Recht auf Gewalt gründet, den Todeskeim in sich trägt.“

Der Todeskeim naht rascher als alle glauben, eine Pockenepidemie stellt das Leben der Kleinstädter auf den Kopf. Erster Schuldiger ist der venezianische Festungsbaumeister Taglione, der sich rechtzeitig aus dem Staub macht.

Im Kampf gegen die Seuche bewähren sich der Arzt Fabri und die Oberin des Klosters, die den Dekan des Ordens, Alexander, liebt. Das kann nicht gutgehen.
Der Seuche folgt ein harter Winter, eine Missernte, die Diebstähle von Gänsen nehmen zu, es herrscht Verdacht und Misstrauen, Rothaarige werden als Hexen bezeichnet, im Kloster kriegt eine Nonne ein Kind …

Die Äbtissin will das heruntergekommene Kloster mit einem Schwindel aus der Misere retten, sie malt sich Stigmata auf, scheint Wunder zu wirken und wird wie eine Heilige verehrt. Der Schwindel fliegt auf.
Währenddessen Denunziation wohin das Auge reicht.

Gedenktafel am Wohnhaus der Autorin, Wien IV., Rainergasse 3 (1978-1991)

In diesem Chaos waltet der Dominikanerpater Doktor Schuller, der Inquisitor. „Die Inquisition hat das Recht, sich jedes Recht herauszunehmen.“ (Bischof Ulrich)
Am Ende brennen die Scheiterhaufen mit den im „Judenkeller“ inhaftierten Frauen.

Doktor Fabri tritt rechtzeitig die geplante Reise nach Nürnberg an, lässt sich von einer „Brise neuen Geists“ anwehen, er trifft auf Albrecht Dürer, Veit Stoß, Hartmut Schedel, Conrad Celtis und noch einige Größen des Humanismus und der Renaissance.

Zurück in der paranoiden Welt der Kleinstadt erfährt er von den Vorgängen. Der Schreiber der Stadt im Dienst der Inquisition hat nur seine Pflicht getan. Nach getaner Arbeit klagt der Inquisitor:

„Ach, das Volk war verblendet von Alters her und lohnte seinen Rettern schlecht all ihre Mühe.“ (S.619)

Es ist ein mitreißendes und auch spannendes Buch, wer von der Zeit so wenig Ahnung hat wie ich, muss halt dort und da nachschlagen.
Die Camouflage hat funktioniert, das Buch wurde nicht verboten.

Felix Braun und Erika Mitterer mit ihren drei Kindern Christiane, Martin und Stefan

Erika Mitterer in: Austria Forum

Lyrikerin, Erzählerin, Dramatikerin

Mitterer, Erika

Erika Mitterer. Foto, 1993.
© Die Presse/Michaela Seidler

Erika Mitterer wurde am 30. März 1906 in Wien geboren.
Sie besuchte ein privates Mädchen-Lyzeum, fasste danach den Entschluss, einen Sozialberuf zu ergreifen und absolvierte Fachkurse für „Volkspflege“ bei Ilse Arlt. Sie arbeitete als Fürsorgerin in Tirol, im Mühlviertel und im Burgenland.

Nach ersten Erfolgen mit dem Gedichtband „Dank des Lebens“ (1930) wandte sie sich nur mehr der schriftstellerischen Arbeit zu, zu der sie bereits von Rainer Maria Rilke ermutigt worden war, den sie 1925 in Muzot besucht hatte. (Der „Briefwechsel in Gedichten“ mit Rainer Maria Rilke, wohl die populärste Publikation Erika Mitterers, erschien erstmals 1950 im Insel-Verlag.)

Aus den Eindrücken ihrer Fürsorgetätigkeit entstanden zwei Prosawerke, die Erzählung „Höhensonne“ und der Roman „Wir sind allein“, der aber aus ideologischen Gründen erst nach Kriegsende erscheinen konnte (Erika Mitterer hatte sich geweigert, einen jüdischen Arzt zu „arisieren“).

(1) 1940 hatte der Roman „Der Fürst der Welt“, auch in norwegischer Übersetzung, durchschlagenden Erfolg. Er gilt heute mit seiner getarnten Kritik am NS-Regime als eines der Paradebeispiele für die Literatur der „Inneren Emigration“.

1937 heiratete sie Dr. Fritz Petrowsky, 1938 wurde das erste ihrer drei Kinder geboren (Dr. Fritz Petrowsky, 1906-1996).

1946 erschienen der Band „Zwölf Gedichte 1933 – 1945“ und später mehrere Romane und Erzählungen. Einige Jahre lang galt ihr Interesse hauptsächlich dem Drama, von denen eines, „Verdunkelung“, im Theater der Courage 1958 aufgeführt wurde. In diesem Stück wie auch schon in dem Roman „Die nackte Wahrheit“, in der Erzählung „Barmherzigkeit“ und vor allem in dem letzten Roman „Alle unsere Spiele“ (1977) fand das statt, was lange Zeit unter dem Stichwort „Vergangenheitsbewältigung“ in der österreichischen Literatur vermisst wurde.

1965 konvertierte Erika Mitterer vom evangelischen Glauben zum Katholizismus, wobei die Wurzeln dieser Konvertierung bis in ihre Kindheit, aber vor allem in die sieben Jahre Arbeit an dem großen Inquisitionsroman „Der Fürst der Welt“ zurückreichen.
Drei Lyrikbände mit vorwiegend religiösen Gedichten bezeugen diese Entwicklung; der mittlere („Entsühnung des Kain“, 1974) erschien im Johannes-Verlag des bedeutenden Theologen Hans Urs von Balthasar.

Ihre Literatur ist geprägt vom katholischen Glauben, bevorzugt mythologische Stoffe sowie soziale Themen und versucht auch eine Bewältigung des Phänomens NS-Zeit.

Gerhard Fritsch zum 55. Todestag

22. März 2024

„Gerhard Fritsch gehört zu jenen Autoren, deren Werk der exakten Analyse harrt, die freilich auf eine Gesamtausgabe zurückgreifen können müsste, die es bislang noch nicht gibt“ schreibt Wendelin Schmidt-Dengler 1995 in den „Bruchlinien I Vorlesungen zur österreichischen Literatur 1945 bis 1990“.

Aus meiner kleinen Sammlung

„Gerhard Fritsch war schon nah daran, zum Geheimtipp zu verkommen oder in die Literaturgeschichte entsorgt zu werden“ konnte man vor fünf Jahren in einer Rezension von Bodo Hell zum Erscheinen seiner Tagebücher, herausgegeben von Klaus Kastberger, lesen.

Auf eine Gesamtausgabe wartet das interessierte Publikum nach wie vor vergeblich und ob die Tagebücher „Man darf nicht leben, wie man will“ (2019) die Warterei darauf verkürzen sollten, wie man annehmen konnte, muss sich noch zeigen.

„Gerade das Beispiel Fritsch zeigt die Karrieremöglichkeiten, die der österreichische Literaturbetrieb bot, vor allem aber auch, dass der Freitod, der eine aufstrebende künstlerische Entwicklung sinnlos unterbricht, dem Autor gerade jene Bedeutung wieder raubt, die zu erringen er schon begonnen hatte“ kann man in Robert Menasses „Essays zum österreichischen Geist — Die sozialpartnerschaftliche Ästhetik“ (1990) nachlesen.

Zur Karriere der Romane Gerhard Fritschs lässt sich sagen, dass er sich mit „Moos auf den Steinen“ (1956) in die Herzen des Publikums hineingeschrieben hat und mit „Fasching“ (1967) wieder hinaus.

In „Moos auf den Steinen“ heißt es „Er [der Schlossherr Franz Josef Suchy-Sternberg] wollte einen Roman schreiben. Einen Roman des alten Österreich, noch genauer und umfassender als Musil, noch trauriger als Joseph Roth.“ (S. 30)

„Das moderne Österreich eine glückliche Verbindung aus tiefsinnig-sensiblem Hang zu historischer Schönheit und nun funktionierender Demokratie? Eine dürftige Ideologie.“ (Menasse a.a.O., S. 137)

Und weiter: „Nun zeigt Fritsch [in „Fasching“] die banausische Schäbigkeit, Borniertheit und Gemeinheit der Menschen in einer Demokratie, die auf der alles überwältigenden Mehrheit derer basiert, die ‚ihre Pflicht getan‘ haben.“

Zum Schluss die Schlussstrophe eines Gedichts mit dem Titel „Österreich“ (in: Gesammelte Gedichte, 1978):

Österreich mit seiner Geschichte der ganzen und all /
seinen Bergen Burgen Fabriken Keuschen und Schlössern /
seinen Einschichten Vorstädten Marktplätzen Glocken und Türmen /
Bilderbuchdörfern Kaffeehäusern und Grüften seiner Musik /
seinem Wort seinem Schweigen seinen Tränen und seiner Freude /
seinen vergessenen Toten seinen Gefeierten seiner Einfalt seinem Wissen /
ohne spanische Reiter Verzweiflung und Zwietracht ein Volk /
mit Vergangenheit Zukunft dauernder Gegenwart /
im Kreuz der Straßen Europas im Schoß dieser Welt /
lächelnd über seine Bestatter: Österreich.

Die letzte Zeile diente Ulrich Weinzierl 1989 als Titel für sein „Österreichisches Lesebuch. Von 1900 bis heute“.

Heute ist der Begriff „Österreichische Literatur“ bei den österreichischen Literat:innen in Verschiss geraten, deshalb (?) gibt es auch keine Anthologien zur Österreichischen Literatur mehr.

Österreichische Erzähler aus 6 Jahrzehnten (Berlin, Verlag Volk und Welt, 1967), Bd. 2, S. 293-318 — links: Stiasny-Bücherei, Bd. 110 (1962)

Zu Egon F r i e d e l l

Wiener Fenstersprung am 16. März 1938

Gegen zehn Uhr abends dröhnt in der Währinger Gentzgasse Nr. 7 Geschrei und Gepolter vom Stiegenhaus herauf in den dritten Stock, dem Ton nach SA.
Dr. Egon Friedell meint seinen Namen zu hören, es überrascht ihn nicht, er erwartet diesen Besuch seit Tagen.

Sein Bitten und Flehen um eine Pistole oder um Gift erhören seine Freunde Tage davor nicht, Alfred Polgar, Berta Zuckerkandl, Franz Theodor Czokor, Dorothea Zeemann flehen und drängen ihrerseits, zur Flucht. Das kommt für ihn nicht in Frage, alles, was ihn ausmacht, ist in der Gentzgasse.

Es bleibt ihm also nur ein Ausweg. Er geht zum Schlafzimmerfenster, öffnet es, zwängt seinen massigen Körper durch das Fenster, ruft in die Gasse „Bitte treten Sie zur Seite!“ — so hat es eine Augenzeugin, die Nachbarin gehört — und springt.

Der Arzt wird später feststellen, dass er bereits während des Sprungs einen Herzanfall erlitten hatte und dadurch das Bewusstsein verlor.

In Egyd Gstättners Roman aus dem Jahr 2017 sieht er auf der Gasse ehe er auf dem Pflaster aufschlägt noch einen kleinen Mann mit Zylinder, es ist H. G. Wells, der Science-Fiction-Autor, der den Kollegen auf eine Zeitreise in beider Vergangenheit mitnimmt.

Mag es Zufall sein oder auch nicht, Friedells Phantastische Novelle „Die Reise mit der Zeitmaschine“ erscheint posthum 1946, im Todesjahr H. G. Wells.

Was meine kleine Bibliothek zum Thema hergibt

Seine erste nachweisbare Publikation mit dem Titel „Vorurteile“ erscheint 1905 in der „Fackel“ des vier Jahre älteren Karl Kraus. 2028 ist demnach ein Friedell-Jahr (150. Geburtstag).

Seine Groteske in zwei Bildern „Goethe im Examen“, eine der zahlreichen Koproduktionen mit Alfred Polgar, dessen 150. Geburtstag wir letztes Jahr gefeiert haben, spielt er in der Rolle des Geheimrats hunderte Male, zuletzt 1938 am Theater an der Wien.

Seine Großessays „Kulturgeschichte der Neuzeit“ und „Kulturgeschichte des Altertums“ sollten statt Geschichte-Schulbüchern Pflichtlektüre sein, falls man will, dass die Kinder Freude an der Materie entwickeln. So korrekt wie die Schulbücher sind sie allemal.

Eine Erinnerungstafel der Literarischen Gesellschaft am Haus in der Gentzgasse erinnert an den Sprung in den Tod vor 86 Jahren.

Friedells Wohnhaus mit Erinnerungstafel

Abenteuer Alltag

Es ist nicht der Rede wert und dennoch möchte ich kurz über mein heutiges Alltagsabenteuer berichten, weil es mir keine Ruhe lässt.
Am Schauplatz Ottakring, genauer auf dem 16er-Markt vor der U3-Station, wo Obst und Gemüse angeboten wird, treffe ich einen Bekannten.

Er ist erstaunter als ich, mich hier zu sehen und er hat ja recht. Hätte er gewusst, dass ich eigentlich gar nicht da sein sollte, sondern im 49er auf der Rückreise von einem Gespräch mit einer Romanautorin im fernen Penzing, sein Erstaunen wäre grenzenlos gewesen.

Ich muss vorausschicken, dass seine Deutschkünste eher rudimentär entwickelt und ihm daher komplizierte Sachverhalte kaum darstellbar sind. Eine Fahrtbehinderung hatte mich in Artmanns „Bradnsee“ stranden und die alternative Route über die Vorortelinie nehmen lassen.

Jedenfalls musste ich aussagen, weshalb gerade ich mich abseits von Gumpendorf aufhalte. Meine Gemahlin nennt mich gerne liebevoll (?) Stubenhocker, davon kann mein Bekannter aber kaum Kenntnis haben. Mein Bekannter ist Bettler mit Wirkungskreis rund um unseren Häuserblock.

Ich konnte ihm den Anlass meiner Anwesenheit nicht hinreichend deutlich machen, so habe ich mir mit dem Münzvorrat in meiner Hosentasche beholfen. Viel kann es nicht gewesen sein, ein paar Euro. Er hat meine Abstandszahlung dennoch anstandslos akzeptiert. Bis zum nächsten Mal, dann wieder in heimatlicher Umgebung und ohne Umstände.

Zum Geburtstag einer Nazisse

Maria Grengg, geboren am 26. Februar 1888

Kürzlich ist mir durch Schenkung das „Lexikon deutschsprachiger Schriftstellerinnen 1800-1945“ (dtv 1986), herausgegeben von drei Kölner Germanistinnen, zugekommen.
Ich schlag‘s auf: „Grengg, Maria, *26. 2. 1889 in …“ und glaub‘ meinen Augen nicht zu trauen.

Mit dem abweichenden Geburtsjahr hat es die eigentümliche Bewandtnis, dass sich die Autorin nicht um ein Jahr jünger machen wollte — dergleichen kommt vor — nein, sie wollte im gleichen Jahr wie der „Führer“ geboren sein.

Gleich dahinter kommt übrigens ihre Schwester im Geiste Paula Grogger, die es zumindest bei ihrem Geburtsjahr 1892 beließ.

Maria Grengg hat nicht nur ihren Beitrag zum „Bekenntnisbuch österreichischer Dichter“ (1938) zur Huldigung an den „Führer“ geleistet, sie war auch Mitgründerin der völkischen Zeitschrift „Der getreue Eckhart“, den sie durch ihre Illustrationen bereichert hat.

Sie war gar keine schlechte Zeichnerin, war in der Kunstgewerbeschule in der Meisterklasse Kolo Moser und in München Schülerin Alfred Rollers und Oskar Kokoschkas. Aus ihrem Roman „Peterl“ (1932), den sie selbst illustriert hat, habe ich ein Foto gemacht (s. u.), es zeigt Stein an der Donau, wo ihr Vater Brückenverwalter war, dem der Text gewidmet ist.

Stein an der Donau (heute Krems-Stein) aus „Peterl“

Maria Grengg dürfte es auch gewesen sein, die das G‘schichtl um das Fuchs-Schlössl in Umlauf gebracht hat, inklusive Benennung und Schenkung an Karoline Fuchs-Mollard durch Maria Theresia. Das ist durch das Grundbuch nicht gedeckt. Dass gerade Maria Theresia darauf vergessen hätte, ist nicht sehr plausibel. Es hat ihr nie gehört, sie konnte es nicht verschenken, aber die „Füchsin“ kann dort ihren Lebensabend verbracht haben.

Hugo von Hofmannsthal, der das Schlössl in der Ketzergasse 471 in Rodaun beinahe dreißig Jahre bewohnte, erwähnt „Fuchs-Schlössl“ nicht ein einziges Mal, er hätte wenig Grund gehabt, den kaiserlichen Zusammenhang unter den Tisch fallen lassen.

Ganz in der Nähe war das Kriegspressequartier, was Karl Kraus veranlasst hat, in der Fackel in Anbetracht der Wohnung Hofmannsthals zu schreiben, man käme Hofmannsthal mit der Front entgegen.

Nach ihm ist die Grengg, nach 22 Jahren in Perchtoldsdorf, wo sie im Ehrengrab ruht, 1942 nach Rodaun ins „Fuchs-Schlössl“ übersiedelt, wo sie 1963 verstarb.

Lexikon deutscher Schriftstellerinnen (1986)

Mit einem Sühneerlass durch den Bundespräsidenten wurde ihr 1947 die Sünden der nationalsozialistischen Zeit erlassen. Bereits 1948 erschien ihr „Peterl“ in Neuauflage (s. Abb.)

Im Klappentext, den ich aus „Booklooker“ kopiert habe, heißt es:
„»Peterl« ist ein besonders liebenswürdiges Buch der bekannten Schriftstellerin. Es atmet die melodiöse Beschwingtheit und die bei aller Größe heitere Kunst, die das hervorstechende Merkmal allen Österreichertums ist. Maria Grengg erzählt von einer kleinen alten Donaustadt und ihren Bewohnern, deren Schicksale vielfältig ineinander verwoben sind, die einander lieben und hassen wie überall auf der Welt. Aber die Sonne, die ihrem Tag leuchtet, glänzt auch über den Donauhängen und läßt die Reben wachsen. Sie zaubert selbst aus Tränen ein fröhliches Lächeln und wandelt noch das Leid in unbeschwertes Glück. Und das ist es, was Peterl, den kleinen blonden Buben und alle, die seinen leuchtenden Augen begegnen, so liebenswert macht.“ (Lizenzausgabe Andermann Verl. 1952)

Der kleine blonde Bub mit leuchtend blauen Augen könnte in aller Ruhe im Idyll am Donaustrande sorgenlos aufwachsen, wenn da nicht volksfremde Elemente wie der Geldverleiher Salomo Hirsch ihr Unwesen trieben und 100% Zinsen nähmen. So gerät die Harmonie ein wenig in Schieflage.

Alle drei Städte, in denen sie lebte, hatten Gassen nach ihr benannt, in Krems wurde sie 2021 umbenannt, in Perchtoldsdorf und in Wien XXIII, fast schon auf der Perchtoldsdorfer Heide, existieren sie noch.

Falls ich jetzt das Interesse an derartiger Literatur geweckt haben sollte, ihre Werke sind um wenige Euro antiquarisch zu haben, für das „Bekenntnisbuch“ muss man zumindest mit einem Hunderter rechnen.

Beichte eines Lazar-Süchtigen

Ang‘fangt hat’s mit „Die Eingeborenen von Maria Blut“ (1937/2015) im Sommer 2019, dicht gefolgt „Die Vergiftung“ (1920/2014), bis „Leben verboten“ (1932/2020) ist ein ganzes Jahr vergangen, da war ich aber schon im Erscheinungsfieber, im April 2023 ging‘s dann Schlag auf Schlag, „Viermal Ich“ — bisher sämtliche Lazars im Verlag Das vergessene Buch (DVB) — ebenfalls im April 2023 „Der Fall Rist“ (1921/2023 Intervall Verlag) bis zum heurigen Jahr mit zwei schmalen Bändchen „An meinen unbekannten Leser. Gedichte & Photographien“ und …

Dazwischen hab‘ ich „Arabesken. Aufzeichnungen aus bewegter Zeit“ (1957) ihrer Schwester Dr. Auguste Lazar gelesen. Man muss sagen, dass ich da schon einigermaßen abhängig war.
Um „Zwei Soldaten“ habe ich mehr als ein Monat einen Bogen gemacht, das Bändchen lag auf dem Stapel der Neuerwerbungen wie die Protagonisten der Novelle im Wüstensand.

Reihenfolge der Lektüre von links nach rechts

Gestern hatte ich eine längere Bahnfahrt zu absolvieren, da hab‘ ich‘s mitgenommen. Es ist, auch angesichts der Kriegshandlungen ringsum, ein berührende Text. Zwei Sterbende, fast Knaben noch, liegen in der Wüste, dem britischen Piloten John(ny) Smith fehlen die Hände, dem SS-Sturmmann Hans Schmitt fehlen die Beine.

Es ist Maria Lazars letztes Prosawerk, entstanden 1945-1948 und als Manuskript aufgefunden im berühmten Metallkasten der Enkelin Kathleen Dunmoore in Nottingham.
Maria Lazar zeigt ungeheuer einfühlsam, dass ein Dialog auch im Angesicht des Todes nicht möglich ist.

Was die jungen Männer an Gemeinsamkeiten im gesprochenen und/oder Inneren Monolog, es ist nicht immer ganz klar, sie sprechen oder denken abwechselnd, einmal der eine, dann der andere, was sie gemeinsam haben, ist eine innige Beziehung zur Mutter und eine mehr als distanzierte zum Vater, beide wissen, dass sie sterben müssen.

Der Brite ruft Bilder aus der Familie auf, von seiner Liebschaft, Jugendsünden, Sonntagsglocken und Ähnliches, der Deutsche steigert sich in Phrasen der Lingua Tertii Imperii von Pflicht und Glaube an Großdeutschland in einen regelrechten Größenwahn hinein. „Heil Schmittler!“ Am Schluss fällt ein Schuss.

Soma M o r g e n s t e r n

Geboren 1890 in Tarnopol, Kronland Galizien (heute Ukraine), gestorben 1976 in New York

Der Freund später berühmt gewordener Männer war völlig verschwunden und vergessen, ehe Mitte der 1990er Jahre Manuskripte mit Erinnerungen aus dem Nachlass verlegt wurden:
— Joseph Roths Flucht und Ende (1994)
— Alban Berg und seine Idole (1995)

Die Fans von Joseph Roth werden vermutlich zahlreicher sein, als jene von Alban Berg. Auch ich habe das Berg-Buch erst jetzt gelesen, das Roth-Buch bereits vor sechs Jahren.

Das Roth-Buch ist die Geschichte des Pariser Exils, wo Soma (eigentlich Salomo, Namensänderung nach der Promotion 1921) Roth wieder getroffen und sogar im selben Hôtel de la Tournon wie dieser gewohnt hat, sozusagen Roth intim. Das erste Zusammentreffen der beiden Ostjuden lag da beinahe dreißig Jahre zurück.

Ganz anders ist das Berg-Buch gestrickt, es sollte Pflichtlektüre für Interessierte an Musiker-Biografien in gleicher Weise sein wie für jene an der Wiener Kultur der 1920er und 30er Jahre. Morgenstern lernt Berg im Sommer 1923 kennen, ab Herbst 1927 waren sie per Du, damals keine Voraussetzung für den freundschaftlichen Umgang.
Heute wird man sogar im Supermarkt vom Kassier geduzt.

Was den Kontakt der beiden intensivierte waren deren eng beieinanderliegenden Wohnungen im XIII., Trauttmannsdorffgasse 27 und 34, gewissermaßen über die Gasse. Seine Frau Inge, die Tochter des dänischen Dirigenten Paul von Klenau, hat Soma Morgenstern 1924 bei Alban und Helene Berg kennengelernt.

Geheiratet wurde im Sommer 1928, Sohn Dan kam 1929 zur Welt, er blieb das einzige Kind und wurde Musikjournalist für Jazz. Lange Zeit war er Redakteur des renommierten Jazz-Magazins Down Beat. Inge überlebte Soma Morgenstern um 14 Jahre und starb 1990 in New York.

Ab 1930 schrieb Morgenstern an der Romantrilogie „Funken im Abgrund“:

  1. Bd. 1935, „Der Sohn des verlorenen Sohns“
  2. Bd., 1947, „Idyll im Exil“
  3. Bd., 1950, „Das Vermächtnis des verlorenen Sohns“.
    Leider ist der erste Band des Nachdrucks (Verlag zu Klampen, 1996) nicht mehr lieferbar.

Soma Morgenstern hat nach seiner Flucht mit der letzten Eisenbahn, die 1938 noch ohne Schikanen nach Paris abfuhr und Exil in den USA Europa dreimal besucht.
1950 mit einem Besuch seiner Schwester Klara in Palästina, seine Mutter und zwei Geschwister wurden in der Shoa ermordet.
1957 und 1968 mit der längsten Aufenthaltsdauer von fünf Wochen in Wien.

Er gehörte zu den Wenigen, die 1918 die Spanische Grippe überlebten, sie warf ihn auf dem Rückweg von der Front drei Monate aufs Krankenlager.

Hugo von Hofmannsthal — Zum 150. Geburtstag

Am 1. Februar jährt sich der Geburtstag Hugo Hofmann von Hofmannsthals zum 150. Mal.

1930, dem Jahr nach Hofmannsthals Tod, schreibt Franz Blei (Bild) über das Missverständnis, dass er nicht das sechszehnjährige Wunderkind ein Leben lang bleiben wollte:

Franz Blei

„ … jung zu tun und die Welt in Traum und Geflirre aufzulösen, wie es dann Rilke tat, der immer ein Knabe blieb, zum heimlich-brünstigen Ergötzen älterer Damen beiderlei Geschlechts.“

Ist der Jugendwahn, der in manchen der älteren Generation vorwaltet, ähnlich motiviert?

Bei Hofmannsthal blieb man dabei, im „einzigen Dichter des Zeitalters“ einen weltfremden Ästheten, Artisten, einen gebildeten Dekadenten, Neuromantiker zu sehen.

„Nie hat eine Zeit ein vernichtenderes Urteil über sich selbst gesprochen, als diese Zeit es mit dem tat, was sie als ihr Urteil über Hofmannsthal vermeinte.“

Bei diesem Urteil scheint es geblieben zu sein. Womöglich ist Hofmannsthal neu zu bewerten.
Ich meine damit nicht die Neubesetzung des „Jedermann“.

P. S. Ganz ähnlich äußert sich zum ersten Todestag Walter Benjamin 1930 in der Zeitschrift „Die literarische Welt“ über „die Unbeholfenheit der Schreibenden“ Hofmannsthal „Gerechtigkeit widerfahren [zu] lassen, indem sie seine Sprache imitierten: „und dabei traten sie beiden zu nahe.“

„Man war ungläubig, hatte es hier und da vielleicht auch aus triftigen Gründen sein können, war es aber zumeistaus den billigsten: man verstand nicht.“

Es ist nicht uninteressant, dass in drei von fünf Anthologien, die ich über die fragliche Zeit besitze, die Erzählung „Luzidor“ als Referenz herangezogen wurde.

„Luzidor“ wurde zunächst in der Neuen Freien Presse vom 23. März 1910 publiziert und diente als Tableaux für das Libretto der Richard-Strauss-Oper „Arabella“ (UA 1933, Dresden). Die Erzählung trägt die Bezeichnung „Figuren zu einer ungeschriebenen Komödie“.

Lucidor, die titelgebende Figur, heißt eigentlich Lucile, ist sechzehn Jahre alt und das Gegenteil ihrer Schwester Arabella, die voller Verachtung, Ungeduld und Unzufriedenheit einherstolziert.
Der Grund dieser Travestie ist der reiche Onkel, der der in finanziell prekären Verhältnissen lebenden Frau von Murska samt Töchtern den Untergang ersparen soll und der Frauen nicht leiden kann.

Ort der Handlung ist die Wiener Innenstadt. Der Onkel bewohnt ein Stockwerk des Palais Buquoy-Longueval in der Wallnerstraße, besser bekannt als Palais Czernin. Frau von Murska (ich musste sofort an Murks denken) aus verarmtem polnischen Adel hat sich in der Kärntner Straße eingemietet.

Unter den Verehrern der achtzehnjährigen Arabella befindet sich der wohlhabende Wladimir, dem sie aber die kalte Schulter zeigt. Es ergibt sich durch gemeinsame Ausritte, dass sich Wladimir und der vermeintliche Luzidor anfreunden.

Lucile-Lucidor beschließt nun, die Handschriften der Schwestern gleichen sich zum Verwechseln, im Namen Arabellas glühende Liebesbriefe zu schreiben. „Wladimir hat glückliche Tage und Lucidor auch.“ Untertags die kühle Ablehnung, nachts Liebesbriefe.

„Zufällig oder gemäß des Schicksals entsprach dies einer ganz geheimen Spaltung auch in Wladimirs Wesen.“ Nächtens kommt es sogar zu Zusammenkünften, Flüstern und ein merkwürdig umwickeltes Haar in der Nacht lässt ihn den wahren Sachverhalt nicht erkennen.

Ein Darlehen wird fällig, die Situation in Wien ist nicht weiter haltbar, man packt für die Abreise. Wladimir erbittet ein Gespräch mit Arabella unter vier Augen, bittet sie, die Maske fallen zu lassen. Zu seiner Verblüffung läuft sie aus dem Zimmer.

Lucile-Lucidor tritt ihm tränengebadet in einem Morgenmantel Arabellas, das bubenhaft kurze Haar unter einem dichten Seidentuch verborgen, entgegen.
„Es ist sein Freund und Vertrauter, und zugleich seine geheimnisvolle Freundin, seine Geliebte, seine Frau.“

„Ob Lucidor nachher wirklich Wladimirs Frau wurde oder bei Tag und in einem anderen Land das blieb, was sie in dunkler Nacht schon gewesen war, seine glückliche Geliebte, sei gleichfalls hier nicht aufgezeichnet.“

Denn einen „Dialog, wie der sich nun entwickelnde“, heißt es im Satz davor, „kann das Leben hervorbringen und die Komödie nachzuahmen versuchen, aber niemals die Erzählung.“

Warum Anthologien gerade auf diesen Opern-Stoff zugreifen, ist mir schleierhaft.

In seiner Rezension für „Die Neue Rundschau“, H. 1 (Febr. 1931) zu Willy Haas „Gestalten der Zeit“ (Kiepenheuer 1930) hebt Walter Benjamin ganz besonders die beiden Essays zu Hugo von Hofmannsthal hervor.

„Was Haas im Jahre 1929“, heißt es dort „unter dem Eindruck der Todesnachricht über Hofmannsthal schrieb — es war in der gesamten deutschen Presse fast das einzige, was der Stunde gerecht wurde — stellt die Gestalt in den Raum (…) als ein dichterisches Staatsgenie, das zu spät kam. Das Land hatte keine Zukunft mehr.“

Um die „universalhistorische Konstruktion, wie diese Essays sie unternehmen als Ausdruck der gesamten metaphysischen Geisteshaltung“ wiederzufinden müsse man weit zurückgehen, sie sei eminent virtuos, eminent vermittelnd, wenn schon nicht immer synthetisch.

Willy Haas, Herausgeber der Zeitschrift „Die literarische Welt, in der das Who‘s‘who geschrieben hat, kommt aus dem Prager Kreis der Arconauten, er war es, der den ersten Kafka-Text publizierte.

Über das „schreckliche Ereignis“, der Schlaganfall Hofmannsthals während der Vorbereitungen zum Begräbnis seines durch eigene Hand gestorbenen Sohns, schreibt er, als wäre er dabei gewesen.

Er versucht die ganze Figur des Dichters darzustellen, seine Sprechweise, seinen Dialekt der alten österreichischen Aristokratie, seinen Habitus eines hohen Diplomaten, seine Schrift wie lockeres Häkelwerk, seine Entwurfsskizzen in mehreren Lagen Text übereinander geschrieben, kreuz und quer, seine Möglichkeiten in der Dichtung.

Haas geht bis Maria Theresia zurück, über die „gerade Hofmannsthal das Schönste und Richtigste“ geschrieben hat, die Österreich neu aufbaute, als Frau und Mutter, mit funktionierender Bürokratie und dichterischem „Staatsgenie“ Grillparzer.

„Hofmannsthal starb in diesem hilflosen Kleinstaat (…) er hatte nicht nur seinen ältesten Sohn verloren, sondern auch seine älteste Mutter.“

Auch Haas beklagt die „verlegenen Nekrologe der Tageszeiten“ die sich an Dinge erinnern, die sich um 1895 begeben haben sollen und 34 Jahre Produktion ausblendeten, als habe er„nur Operntexte oder Gelegenheitsstücke nach Art des „Jedermann“ verfasst.

„Ist es nicht merkwürdig“, zitiert er den Dichter, „dass ich heute wie ein unbekannter Anfänger dastehe?“ „Hat er mir nach der Provinzpremière des „Turm“ voriges Jahr gesagt. Die Provinzbühne war das Münchener Prinz-Regenten-Theater, das vorige Jahr 1928, März.

Haas folgert und das ist vermutlich der Grund, warum uns Hofmannsthal recht fremd ist: „Er war bei uns etwa so bekannt wie Österreich: eine blasse Erinnerung aus dem vorigen Jahrhundert.“

Für uns ist es schon das letzte Jahrtausend.

„Sie haben mich kommen lassen, damit ich ihnen etwas über einen Dichter dieser Zeit erzähle“, der Zweiundzwanzigjährige gibt den Text „Poesie und Leben“ als Vortrag aus, erschienen ist er am 16. Mai 1896 in der Wiener Zeitung „Die Zeit“, eine Art Verlautbarungsorgan des Jung-Wien.

„Ich glaube, dass der Begriff des Ganzen in der Kunst überhaupt verlorengegangen ist.“ Das war das Lebensgefühl am Ende des Jahrhunderts. Man kann sich daraus den Wagner-Hype erklären, das Gesamtkunstwerk.

„Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen.“ heißt es wenige Jahre später im Chandos-Brief mit dem berühmten Nebensatz:
„die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muss, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze.“

Er kann auch Schuldige für diese Fragmentierung benennen: „Philologen, Zeitungsschreiber, Scheindichter“. „Die Worte sind alles, (…) Es führt von der Poesie kein direkter Weg ins Leben, aus dem Leben keiner in die Poesie.“

Denn „den Wert der Dichtung entscheidet nicht der Sinn (…), sondern die Form, das heißt durchaus nichts Äußerliches, sondern jenes tief Erregende in Maß und Klang, wodurch“ sich die Spreu vom Weizen scheidet. Wirkung sei die Seele der Kunst, das Geistige das Element der Dichtkunst.

Er schließt: „Sie haben mich kommen lassen, damit ich Ihnen von einem Dichter erzähle. Aber ich kann Ihnen nichts erzählen.
(…)
Was das Meer ist, darum darf man am wenigsten die Fische fragen.“

Von diesem Primat der Form haben wir uns völlig verabschiedet — Lyrik etwa ist als Lyrik nur durch die Notation oder die Überschrift Gedicht kenntlich, nicht einmal mehr Rhythmus spielt eine Rolle.
Im Fragmentarischen ist unsere Welt und wir haben sie bei aller Selbstoptimierung nicht erfunden, auch wenn uns die Optimierten Selbstschöpfung vorgaukeln, es ist nur Selbsterschöpfung.

Hofmannsthal wird nicht selten einzig mehr mit „Jedermann“ in Verbindung gebracht.

Ein 150er des Vorjahres, Alfred Polgar, hat uns eine Marginalie zum Titel des Spiels vom Sterben des reichen Mannes hinterlassen:

„Eigentlich ist es nicht Jedermann schlechtweg,
der, mit einer Karte zur Hölle in der Tasche, dank dem Eingreifen einer Kondukteuse, noch im letzten Augenblick zum Himmel umsteigt.
Sondern es ist eben der reiche Jedermann.
Also gerade der Nicht-Jedermann.
Die Spezialisierung war wichtig, denn aus ihr bezieht das Spiel sein Dramatisches.
Ja, fast scheint es, als ob Jedermann auch das feierliche Rituale der Todverkündigung, das erhabene Zeremoniell seines Absterbens seiner sozialen Stellung danke.
Der Verdacht besteht, dass für einen armen Schlucker der Himmel keinen solchen Aufwand getrieben hätte.
Auch der Tod hätte sich nicht in Debatten eingelassen und Fristen gewährt, sondern sich vermutlich benommen wie ein schnöder Wachmann:
„Kommen S‘ mit“ und fertig.“

Karl Kraus, ein anderer 150er, hat sich vor allem über die Knittelverse lustig gemacht.

Zum Schluss

„[V]ier Aussprüche aus dem so überaus wichtigen und bedeutsamen „Buch der Freunde“ enthalten beinahe den ganzen Lebensplan Hugo v. Hofmannsthals:“

„Die Gegenwart oktroyiert Formen. Diesen Bannkreis zu überschreiten und ander Formen zu gewinnen, ist das Schöpferische.“

„Innerhalb der engsten Schranke, der besondersten Aufgabe ist mehr Freiheit, als an dem unbegrenzten Unort, den der moderne Sinn sich als Tummelplatz dieser imaginiert.“

„Der Philosoph — das Wort im antiken Sinn und im Sinn des achtzehnten Jahrhunderts gebraucht — hat einen guten Stand sowohl in einer grandiosen als in ihrer erbärmlichen Epoche: von beiden wird er sich abheben. Aber eine Epoche, die sich selber annulliert, annulliert auch ihn.“

„Indem man von der Wirklichkeit irgend etwas Zusammenfassendes aussagt, nähert man sie schon dem Traum, vielmehr der Poesie.“

Er habe das Wert-Vakuum scharf erkannt und ihm die eigene Persönlichkeit entgegengesetzt. 📚